20.01.2005

Laudationes für die Bürgerpreisträger 2004 - Erika und Rolf Wittenberger

„Fasziniert durch Optimismus, Mitgefühl und Wissen“

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Von dem in der Menschheit vorhandenen idealen Wollen
Kann immer nur ein kleiner Teil zur öffentlich auftretenden Tat werden.
Dennoch aber befindet sich keiner in der Lage, dass er nicht Gelegenheit hätte,
sich irgendwie als Mensch zu verausgaben.“

äußerte Albert Schweitzer.

Diese Gelegenheit, sich als Mensch zu verausgaben, nutzen täglich selbstlos, strebsam, hilfsbereit und kreativ

Erika und Rolf Wittenberger,

die heute für ihr langjähriges Engagement und Wirken im ehrenamtlichen Bereich dem Gemeinwohl der Stadt dienend, mit dem Bürgerpreis der Stadt Freiberg geehrt werden.

Diese Ehrung findet in einer Zeit statt, in der die Blindenhilfe Freiberg auf eine 100-jährige Tradition zurückblicken kann, denn im Jahre 1905 wurde in Freiberg der erste Blindenverein gegründet.

Lassen Sie mich einige bedeutungsvolle Stationen des Lebens unserer Preisträger darstellen:

Rolf Wittenberger, 1934 in Dresden geboren, erlebte als Zehnjähriger die Bombardierung seiner Geburtsstadt. Beeindruckt von den ungeheuren Zerstörungen erlernte er den Beruf eines Maurers, strebte als Geselle nach mehr, wurde Lehrausbilder und schließlich absolvierte er von 1953 bis 1956 ein Bau-Ingenieurstudium in Zittau.

Im Februar des letzten Studienjahres verliebte er sich in Erika, seine fast gleichaltrige bewundernswerte Ehefrau. Nach Rolfs erfolgreichem Studienabschluss entschieden sich beide für Freiberg als ihre neue Heimatstadt.

Bis 1960 wuchs die junge Familie sehr rasch auf 5 Personen an, denn es erblickten Elke, Marion und Gunter, als Letztgeborener, in Freiberg das Licht der Welt.

Nach 5 Ehejahren, die von Kindererziehung, sparsamen Umgang mit dem Vorhandenen geprägt waren, begann Erika eine Tätigkeit als Keramdekoriererin im Freiberger Porzellanwerk Malen war schon immer eine Leidenschaft von ihr, der sie nun, zumindest in abgewandelter Form, Ausdruck verleihen konnte.

Rolf startete nach seinem Studium eine Baukarriere in unserer Bergstadt Freiberg, die zuletzt mit der Tätigkeit als stellvertretender Kreisbaudirektor des Landkreises Freiberg nach über 20 Jahren 1977 vorerst ein jähes Ende fand.

„Nach 43 Lebens- und 21 Ehejahren begann nun mein/unser „zweites Leben“, wertet R. Wittenberger diesen einschneidenden Zeitabschnitt und schildert emotional:

„43 Jahre sah ich der Frauen Augenblitze und des höchsten Kirchturmspitze.“
Im März 1977 durchforschten Erika und ich Wernigerode und Quedlinburg, Städte, die für Bauleute schon immer eindrucksvoll waren und noch heute sind.
Plötzlich sah ich geknickte Häuser-Ecken, Baumstämme und Menschen. Von Tag zu Tag verkleinerte sich mein Gesichtsfeld.“

„Die nüchterne Diagnose des Augenarztes lautete: Netzhautablösung auf dem linken Auge, sofortige Operation war erforderlich. 5 Monate später folgte die rechte der linken Netzhaut nach. Keine der 4 erfolgten Operationen konnte meine Erblindung verhindern trotz modernster Augenmedizin und bewährten Könnens der Operateure.“

Er führt weiter aus:
„Ich zuerst, aber auch meine Frau und die inzwischen drei erwachsenen Kinder mussten begreifen, dass ich nie wieder sehen würde, dass ich lernen musste, meine 4 verbliebenen Sinne derart zu schärfen, um nahezu gleichberechtigt weiter leben zu können.
Hören, riechen, schmecken konnte ich schon immer gut, aber tasten?“

Rolf musste lernen tastend zu schreiben, zu lesen (Punktschrift), ein Tonbandgerät, einen Plattenspieler zu beherrschen, sich an- und auszukleiden, sich in seiner Wohnung, im Kreisbauamt zurecht zu finden, wollte er nicht verkümmern.

Wenn wir uns als Sehende vergewissern, dass unsere sinnlichen Wahrnehmungen zu 80 % über das Auge erfolgen und sich die übrigen 4 Sinne in die restlichen 20 % teilen, können wir vielleicht nachempfinden, welcher Anstrengungen es bedurfte, dass Sich Erika und Rolf W. nach über 25 Jahren Blindheit von Rolf als eine ganz normale Familie bezeichnen, eine Familie, zu der nun auch zwei Schwiegersöhne, eine Schwiegertochter und 8 Enkel (3 Mädchen und 5 Jungen) zählen.

„Mein Vater hat in dieser bewegten Zeit mit den Augen meiner Mutter sehen gelernt und glaubt immer an das Gute im Menschen“, formuliert Marion, seine zweitgeborene Tochter liebevoll, aber auch mit Achtung und Respekt vor ihren Eltern.
In all diesen nicht immer einfachen Zeiten war sicher auch eine Portion Gelassenheit vonnöten, Gelassenheit, von der M. GORKI schreibt: „Man muss den Dingen gegenüber Gleichmut bewahren und sich das Leben nicht mit überflüssigem Grübeln und Philosophieren verbittern.“

Sehr geehrte Damen und Herren,
einen PKW, also ein für uns heute nicht wegzudenkendes Verkehrsmittel, besaßen Wittenbergers nicht. Das Radfahren gehörte zu ihren sportlichen Betätigungen.
„Das mussten wir aufgeben, meine Frau und ich hätten zwar auf ein Tandem umsatteln können, da ich aber mutig drauflosradeln und Erika womöglich etwas zaghaft steuern würde, wäre unser Tandem sicherlich unserer Gesundheit nicht dienlich gewesen“, resümiert Rolf Wittenberger.
Sie waren dabei glücklich, weil sie ihre Wünsche in das rechte Verhältnis zu ihren Mitteln zu bringen vermochten, so wie wir es bei PESTALOZZI lesen können als er sich schon im Jahre 1819 zur Bedeutung von Glück äußerte.

Aber die Bewegung und der Sport wurden nicht aufgegeben. Wöchentlich am Freitagnachmittag schieben Erika und Rolf bei den Keglern des Verbandes keine ruhige Kugel, sondern trainieren für Freundschafts-Wettkämpfe und halten sich fit. Es ist den Freibergern bekannt, dass die Kegler bundesweit beeindruckenden Erfolge im Behindertensport erreichten.

Gemeinsam hören und hörten Erika und Rolf sehr viele musikalische Meisterwerke.
In diesem Zusammenhang erinnert sich Rolf sehr genau an seine Mutation vom starken Raucher zum Nichtraucher und eine daraus resultierende Sammelleidenschaft, nämlich der von Schallplatten. Er bezeichnet diese schwärmerisch als klingende, beseelende und anfeuernde Schätze, die in der Anfangszeit seiner Erblindung als Triebkräfte für das von ihm qualvoll empfundene Erlernen der ungewohnten Punktschrift für Blinde wirkten.

Er wollte auch weiterhin selbständig aus seinen Musikschätzen diejenigen auswählen und selbst auflegen können, auf die er im jeweiligen Augenblick gerade rechte Lust verspürte.

Dieses entspannende Hobby pflegen Erika und Rolf noch heute, indem sie als Abonnenten Konzerte unserer Mittelsächsischen Philharmonie und Opern in der Semper-Oper Dresden zusammen mit befreundeten Ehepaaren, die auch Mitglieder im Blinden- und Sehbehindertenverband sind, erwartungsfroh besuchen.

Ihre Liebe zur Musik und ihr Wissen um die Musik veranlasst das Ehepaar Wittenberger regelmäßig Veranstaltungen für die Mitglieder des entstandenen „Musikzirkels“ des Verbandes allumfassend vorzubereiten und im Ratskeller am 2. Montag eines jeden Monats durchzuführen.
Neben der Liebe zur Musik, zu den Biografien der jeweiligen Komponisten knüpfen Erika und Rolf sehr interessante Bezüge zur Literatur, die diese historischen Zeiträume beschreibt.

Rolf besucht deshalb auch einen Literaturkurs der Volkshochschule. Erika frönt nun ihrem gestalterischen Hobby im Malzirkel.

Sie gehen also auch getrennte Wege, aber alle wesentlichen gemeinsam, vor allem die, die notwendig und unaufschiebbar für die Tätigkeit im Blinden- und Sehbehindertenverband sind.

Als „Innenminister“, so nennen ihn respektvoll die Mitglieder im Verband, organisiert Rolf gemeinsam mit seiner lieben Erika die monatlichen Mitgliederzusammenkünfte für über 100 Mitglieder und 14 sehenden Fördermitglieder, wobei 70 % bereits schon Rentner sind.

Themen wie: Informationen über neue Blindenhilfsmittel, Mobilität und Bewegungsvielfalt Blinder oder die richtige Ernährung sind neben den großen gemeinsamen Geburtstagsfeiern (Erika W. führt dafür eine Geburtstagskartei) stehen dabei im Mittelpunkt.

Als seine Aufgabe bezeichnet Rolf auch das „Auffangen“ von neuen Mitgliedern, d. h. von jungen und älteren Erblindeten. Dabei tritt er meist als grenzenloser Optimist auf und meint, jeder Mensch sei zu verstehen und damit auch zu fördern.

Bereits ein Jahr nach seiner eigenen Erblindung unterrichtete er eine Erstklässlerin 16 Wochen, und ermöglichte ihr so eine Versetzung in die 2. Klasse der Blindenoberschule Karl-Marx-Stadt. Seit dieser Zeit vermittelte R. W. 9 weiteren Schülern im Alter zwischen 22 und 64 Jahren die Punktschrift ganz individuell in der Wittenbergischen Wohnung unter Anwesenheit des jeweiligen Partners, damit dem Betroffenen zu Hause ein Übungspartner und Kontrolleur sehend zur Seite stehen konnte.

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Vorschlag des Verbandes für die heutige Ehrung von Erika und Rolf Wittenberger wird u. a. auch besonders ihr Engagement für die Stadt Freiberg als Mitglied des Behindertenbeirates gewürdigt. Sie leisten gemeinsam einen wichtigen Beitrag für die Gestaltung Freibergs zu einer „barrierefreien Stadt“ und damit zur Erfüllung des betreffenden Stadtratsbeschlusses vom 10. Oktober 2002.

Meine Begegnung mit Familie Wittenberger erfolgte schon in ihrem „ersten Leben“, wie es Rolf meist formuliert.

Intensivere Kontakte knüpften wir nach der Erblindung von Rolf durch gemeinsames Tätigsein für Menschen mit Behinderungen.

Während meiner Dozententätigkeit in der Erwachsenenbildung kann ich mich auf Erika und Rolf Wittenberger stets verlassen, wenn es gilt, zukünftige Alten- und Krankenpfleger oder Heil- und Sonderpädagogen auf die Begegnung mit blinden Menschen, ihre Betreuung, Förderung und Pflege vorzubereiten.
Rolf Wittenberger fasziniert alle Lernenden durch seine Zielstrebigkeit, seinen Optimismus, sein einfühlendes Verhalten, sein umfangreiches Wissen, seine Gedächtnisleistungen.

Unnachahmlich finde ich Wittenbergers Reiseaktivitäten, von denen auch der Blinden- und Sehbehindertenverband durch von ihnen genauestens vorbereitete Ausfahrten profitiert.
Aber auch Reisen, bei denen fast nur Sehende eine Reisegruppe bilden, ziehen Rolf und Erika magisch an.
Umfangreiche Fotodokumentationen, die nun Erika Wittenberger notwendigerweise und gern zu ihrem Hobby erkoren hat, belegen ihre unzähligen wunderschönen Reiseerlebnisse, natürlich auch die kontinuierliche Entwicklung ihrer Familie.

Eine für blinde Menschen ungewöhnliche bildhafte Darstellung einiger ausgewählter Reiseeindrücke, die Rolf formulierte, verdeutlichen, dass ihm die Welt zwar aus dem Auge geraten ist, dass sie ihm aber dafür intensiv in den Sinn gekommen ist:

„Marokko erlebten wir so im Herbst, zu Zeiten weithin verbrannter Erde, doch in einem Oasendorf im Atrium des Bürgermeisters mit einer unvergesslichen Pfefferminzteezeremonie und landesüblichem Menü mit anschließendem Eselritt durchs Oasendorf.
Wäre nicht Erika hinter mir gewesen, hätte mich fast ein tief hängender Palmwedel vom Esel gerissen. Anfangs hatte der Treiber an meiner Seite noch Angst um mich gehabt, bald merkte er aber, dass keinerlei Gefahr drohe und schlumperte nebenher.

Im Vorfrühling reisten wir durch Tunesien und tummelten uns am Hammameter Strand.
In der Douzer Wüste ritten wir auf einem Kamel, übergestülpt bekamen wir eine Schelaba und einen Turban. Ich war ebenso davon begeistert wie später am Strand, an dem uns über zwei Tage ein Frühlingssturm und kräftiger Regen heimsuchten.“

Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist nicht leicht, ein so vielfältiges Leben eines Preisträgerehepaars, wie das von Erika und Rolf Wittenberger in einer Zusammenfassung auf den Punkt zu bringen, die nach den Worten GOETHES handeln, der seinen Wilhelm Meister sagen lässt:

„Trachte jeder überall, sich und anderen zu nutzen!“

Dabei birgt der Name WITTENBERGER, so meine ich, schon für Qualität, denn er bedeutet:

W wie willensstark

I wie interessiert

TT wie tatkräftig in doppelter Weise

E wie entschlossen

N wie normal

B wie beliebt

E wie einfühlsam

R wie realistisch

G wie gebildet

E wie erlebnishungrig

R wie rastlos oder reisehungrig.

Dr. Ruth Kretzer-Braun,
Stadträtin
hielt die Laudation für die Bürgerpreisträger 2004: Erika und Rolf Wittenberger

 


Mittelsachsen – Freiberg mittendrin

Der Verwaltungssitz des Landkreises Mittelsachsen befindet sich in Freiberg. Für Bürger der 53 mittelsächsischen Kommunen, davon 21 Städte, ist er Ansprechpartner u.a. für KfZ-Zulassungen oder Kindergeldanträge und betreibt das Jobcenter Mittelsachsen.

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